ohne Titel (Tentakel)
Künstler/in
Sophia Mairer
(geb. 1989 in Innsbruck, Tirol)
Date2018
ClassificationsMalerei
MediumÖl auf Baumwolle
Dimensions30 × 21 × 2,3 cm
Credit LineArtothek des Bundes
Object number28346
Description„Donna Haraway hat der misogynen und rassistischen Monster-Fantasie von Lovecraft die Buchstaben vertauscht und sie als Chtulu zu neuem Leben erweckt – mit dem Chutluzän ruft sie ein Zeitalter der Arten- und Wesen-übergreifenden Kompliz*innenschaft aus, ein Zeitalter des tentakulären Denkens, das immer auch ein Fühlen, Tasten und Probieren ist; ein Zeitalter der Trauernden, Kompostierenden, Verfilzten, Fasrigen, Wandernden, Treibenden. Wo Love¬craft in den Tiefen des Noch-Nicht-Bekannten die Ungeheuer der unreinen Geschöpfe und die in den Wahnsinn führende Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit vermutet, da sieht Hara¬way das Refugium neuer Geschichten und Symbiosen. Wo Lovecrafts Erzähler davor warnt, zu viel wissen zu wollen, zu viel erforschen zu wollen, da ruft Haraway zu einer neuen Form des Wissens und Forschens auf, einer, die sich von Linearität und dem menschlichen Mono¬pol des Denkens löst. Die Tentakel, die im Gesicht Lovecrafts Cthulhus zum Motiv seiner Schrecklichkeit, seiner Un-Menschlichkeit, seiner alles verschlingenden Gefräßigkeit werden, sind bei Haraway Stellvertreterinnen einer möglichen Zukunft, eines von der Logik befreiten Erfassens und einer weichen, einer fühlenden Annäherung.In Sophia Mairers 30 x 21 cm großen Gemälde, das auf den Plakaten der Premierentage 2018 zu sehen ist, durchbrechen die Tentakel für einen Moment die Wasseroberfläche, sie tauchen glänzend und schwarz leuchtend in der Sichtbarkeit auf und stellen uns jene Falle des humanen Erkennens, in die wir mit einer zuverlässigen Regelmäßigkeit und Durchschnittlichkeit tappen. Wenn wir Wolken, Schlieren, Tintenkleckse, Wurzeln – oder Tentakel – sehen, dann sehen wir Formen, Figuren, Bekanntes, Erkanntes. Am allerliebsten: eine Spiegelung von uns selbst. Etwas Menschliches. Sophia Mairers Tentakel lassen uns ein Gesicht sehen glauben, eine Grimasse, ein Lachen. Ist es das emanzipatorische Lachen der Medusa à la Hélène Ci¬xous oder das gepresste Lächeln des Servicezeitalters, das Grinsen der Entertainer-Künstlerin oder ein wahnsinnig gewordenes Prusten? Wir, die Betrachter*innen, kennen die Spielregeln der Bilder und wissen, was hier auf ewig fixiert ist, ist ein Moment mit einem Vorher und einem Nachher, es ist ein festgehaltener Augenblick der Sichtbarkeit. Gleich – so wissen wir, geht die Illusion – werden die Tentakel wieder abtauchen und das – auch so geht die Illusion – ganz zufällig entstandene Gesicht verschwindet. Umso mehr hält man im Betrachten an der Vertrautheit und Erkenntnis der Form fest – Verunsicherungen und Beunruhigungen mit fixier¬ten Interpretationen, Bezeichnungen und Normen zu begegnen ist eine vertraute Strategie.
„All die tausend Namen sind zu groß und zu klein, alle Geschichten sind zu groß und zu klein“, schreibt Donna Haraway und ruft dazu auf, unruhig zu bleiben, beunruhigt zu bleiben – Ambivalenzen, Schlieren, Uneindeutigkeiten, Verunsicherndes, Unvertrautes auszuhalten. Die von Lovecraft diagnostizierte Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, alles sinnvoll miteinander in Beziehung zu setzen, kann so vielleicht, wenn der Mensch nur aufhört, es andauernd um jeden Preis zu versuchen, wirklich zu ungekannten Allianzen, unvorhersehbaren Bildern und neuen Geschichten führen.“
Auszug aus „Tentakel“ von Nina Lucia Groß, Premierentage, 2018
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